Vorwort.

Soll ich die alten, abgespielten Saiten
Noch einmal rühren ? Ists ein Frevel nicht,
Die stillen Schatten der Vergangenheiten
Nochmals zu ziehen in ein spätes Licht ?

Soll ich sie in geschriebene Zeichen fassen,
Die Geister einer abgetanen Welt ?
Wärs besser nicht die Toten ruhn zu lassen,
Unter dem Gras im weiten Gräberfeld ?

Die Toten, ach ! ja wenn es Tote wären,
Ich trüg an ihren Gräbern wenig Leid,
Ich hiesse, wahrlich, nicht sie wiederkehren,
Gönnt ihnen gerne die Vergessenheit.

Sie aber leben ! Aus der Zeiten Ferne,
Werfen sie trübe Schatten in mein Licht,
Verdunkeln mir die Sonne und die Sterne,
Die Geister des Gechickes sterben nicht !

Ihr seht sie nicht, die Fäden, die geheimen,
Die dort in ihrer Hand zusammengehen,
Ihr dringt nicht zu den Wurzeln und den Keimen,
Die in dem Grunde ihrer Tage stehn .

Und wenn sie ihre kalten Schatten breiten
Über mein Angesicht, nennt , kurz gefasst,
Ihr meinen Gram ein eingebildet Leiden
Und schreibt dem Misanthropen es zur Last …|

So lasst mich den mit diesen schlichten Zeilen
Ein Spältchen öffnen Euch zu einem Blick
Auf stille Wunden, die kein Arzt kann heilen,
Der nicht verneinen kann ein trüb Geschick.

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Molsberg, Kapelle

Molsberg (Verbandsgemeinde Wallmerod), Kapelle in der Nussbaumallee

In der Nussbaumallee, am Ende des Dorfes, an der Kapelle mit den beiden grossen Taxusbäumen, und dem hohen Christusbild dazwischen stand ein ältlicher, zur Reise gerüsteter Mann und sah einem jungen Menschen entgegen, der, ein Ränzchen auf dem Rücken, mit seiner Mutter die ihm, dem Scheidenden, das Geleit gab, daherkam. Mit beiderseits trüben, verweinten Augen blieben sie in einiger Entfernung stehn, um Abschied zu nehmen. Noch einen schwimmenden Blick in das alte, treue Mutteranlitz, noch ein heisser gelobender, letzter Händedruck und dann – Trennung.

„Gott walts“! sagte der Alte und während das Mütterlein in der Kapelle vor der Schmerzensmutter auf die Knie sank und noch einmal in brünstigem Gebete alles Heil und allen Segen über ihrem geliebten Erstgeborenen herabflehte, schritt dieser mit seinem Begleiter durch die Nussbäume zum ersten mal aus dem engen, warmen Vaterhaus, aus dem stillen, weltvergessenen Dörfchen des Westerwalds der weiten, unbekannten, ungewissen Welt entgegen.

Mit diesem jungen, eben dem Knabenalter entwachsenen Menschen hatte es eine eigene Bewandtnis.

In der einfachen Dorfschule als wohlbeanlagter Schüler geschätzt, hatte er sich noch besonders hervorgetan durch ein gewisses Talent zum Zeichnen, dem er gerne nachging, und das, mässig genug, wie es wohl war, doch seinen Mitschülern imponirte, und auch den Lehrer veranlasste, es seiner Beachtung zu würdigen. In einem kleinen Dörfchen bleibt auch das Geringste Aussergewöhnliche nicht verborgen, die Sache sprach sich herum und kam schliesslich sogar dem Schloss- und Gutsherrn, dem hochmögenden Grafen W. zu Ohren.

Dieser, ein wohldenkender, geblideter Mann, in Nassau als der allerersten Einer hochgeachtet und geehrt, war zu jener Zeit Wittwer geworden , und statt wie sonst immer in Wiesbaden, verbrachte er diesmal den Winter, seine Trauerzeit, still und zurückgezogen auf seinem Schloss in und über dem Westerwälder Dörfchen, . Er war auch ein Kunstfreund, besass selber viele Gemälde, meist ererbten Fideikommiss-|besitz und hatte sich auch eigenhändig in verschiedenen Kunstfertigkeiten, Zeichnen und Malen, versucht. So geschah es denn, dass er dem Knaben sein Interesse zugewendet, ihn eines Tages zu sich rufen liess, über seine Arbeiten, sein kindliches Wollen und Können examinirte, und schliesslich sich erbot, ihm täglich von 12 – 1 Uhr in eigener Person Unterricht zu erteilen. –

Hier, freundlicher Leser, halte, wenn Du einige Teilnahme an der Sache hast, nachdenklich einen Augenblick inne. Der Gedankenstrich stehe nicht umsonst da.

Mit dem Augenblick, als der grossmächtige Herr das arme kleine Bauernbüblein seiner Aufmerksamkeit würdigte, kam sich dieses Büblein selbstverständlich als etwas Besonderes vor, mit seiner harmlosen Naivität war es vorbei, und mit der ersten Stunde, die jener, seiner spielerischen neigung entgegenkommend, dazu verwandete, ihn darin zu vervollkommnen, erhielt dieses Talentchen einen ganz anderen Charakter, einen Nimbus des Bedeutenden, umd zar fast noch mehr bei den Eltern und Erwachsenen, als bei dem Knaben selber. Bei ihm bedeutete es einen Wendepunkt, sein Auge war aus der Richtung gebracht der selbstverständliche Bauernberuf wurde fraglich undeutlich, aber um so vielverheissendere Perspektiven eröffneten sich und der Schauplatz seiner Zukunft zog sich hinweg von der Scholle des Westerwaldes in eine hohe, weite märchenhafte Welt hinein. So hing an diesem einen leisen Eingriff, der vielleicht neben einem freundlichen, wenn auch nicht genügend auf seine Tragweite geprüften guten Willen , in seinem Kern der Langeweile, der Einsamkeit entsprungen war, die Umwälzung eines ganzen Lebensschicksals. –

Der Winter ging langsam vorüber. Die Stunden wurden pünktlich abgehalten, und der hohe Instruktor schien mit den Leistungen seines Schülers zufrieden zu sein. Als der Frühling kam, zog eines Tages der Maler und Zeichenlehrer D.v.H. ins Schloss, um. jede Woche ein paar Tage, mit dem Kopieren gräflicher Ahnenbilder zuzubringen, welche Kopien für den Bruder des Schlossherren der in der Nähe von Regens-|burg wohnte, bestimmt waren. Diesem Manne, der hauptsächlich Zeichenlehrer an dem Gymnasium seines Städtchens war, stellte der Graf den Knaben vor und übertrug ihm sein bis dahin selbst ausgeübtes Amt des Lehrers. Da bekam die Sache denn schon etwas mehr Hand und Fuss. Leinwand, Palette, Pinsel und Farben, der ganze zünftige Apparat, der dem jungen hoffnungsvollen Mann, der sich so leicht das Malen angewöhnt, so über  alle Beschreibung interessant erscheint, und einen so grossen Zauber auf ihn ausübt, trat verführerisch auf die Bildfläche. Und als nun auf der schön gespannten weissen Leinwand die alten stahlgeharnischten Ritter die hochfrisierten Perückenköpfe, die stolzen steifen Ritterfrauenin ihren seidenen Bauschen, ihren goldenen Ketten und Ringen zu entstehen begannen, und mehr und mehr herauswuchsen, da waren die Würfel gefallen, des Knaben Schicksal war besiegelt : er musste ein Maler werden !

Seine armen, schwerarbeitenden Eltern, denen die Auszeichnung ihres Sprösslings wie natürlich anfangs gar wohl getan hatte, und sie sich an seinen Arbeiten und an seiner Freude miterfreut hatten, begannen allmählich ein Haar in der Geschichte zu finden. Namentlich der Vater, auf dem die Last einer grossen Familie lag, sah mit immer grösserem Unbehagen der Ablenkung seines Sohnes von der Bauernarbeit zu, seines Ältesten, in dem er gehofft hatte, bald eine so nötige und immer nötiger werdende Unterstützung zu finden. Es kam zu Konflickten bitteren Auseinandersetzungen zu Tränen und bedrückten Zuständen, unter denen die ganze Familie litt, insbesondere die Mutter. So zog sich die Sache hin, bis sich der Vater eines Tages seufzend entschloss, ein Entweder – Oder herbeizuführen und zum Grafen ging, um entscheidende Rücksprache mit ihm über die Angelegenheit zu nehmen. Dieser, der nicht wohl anders konnte, als nachdem der A gesagt hatte, auch B zu sagen, riet dem Vater , den Sohn auf dem Gebiete seiner Neigung gewähren zu lassen, er glaube auf Grund seines Talents ihm in Aussicht stellen zu können, dass er in einigen Jahren in der Lage sein werden, sich anständig durch die Welt zu bringen und im günstigen | Falle den Vater pekuniär unterstützen zu können. Er wolle ihm ein Schreiben geben an den Maler H. in E. einem nicht allzuweit entfernten benachbarten Badeort, zu dem solle er den Sohn bringen, ihm seine Arbeiten vorlegen, und hören ob er geneigt sei, ihn als Lehrling anzunehmen, welche Bedingungen er evtl. stelle und wieviel Lehrgeld er verlange. Letzteres sei er, der Graf, wenn es nicht allzu hoch komme, bereit zu bezahlen. Demgemäss machten sich dann die Beiden, der ältere schweren, der jüngere leichten Herzens, eines Tages auf den Weg, kamen abends hundemüde, in dem iherer gewohnten Armseligkeiten gegenüber höchst vornehmen Hause an, und wurden gut, ja unerwartet freundlich, aufgenommen. Nachdem sie die Nacht in sehr feinen Betten geschlafen, ein gutes Frühstück verzehrt und sich bei den freundlichen Leuten schier heimatlich wohl zu fühlen begannen, führte sie der Maler in seinem Hause, das zugleich ein Hotel war, herum und zeigte ihnen seine Arbeiten. Rosetten und Füllungen Fruchtschnüre, und Blumenkränze, mit denen er die Decken und Wände verziert hatte, und dergl. dekorative Arbeiten mehr, er war nämlich ein Zimmermaler. Das Alles sah sich der Knabe still und bescheidentlich an, bewunderte es gelegentlich höflichst als er aber mit seinem guten Vater wieder heimwärts pilgerte, und dieser, von der ungewohnten Schweigsamkeit des Sohnes beunruhigt, ihm mit warmen Worten die Zunge löste, da quoll unter Schluchzen stossweise die Enttäuschung hervor, die der arme Kerl dort bei den lieben Leuten erfahren hatte. „Solche Sachen wolle er keine machen, er wolle Bilder malen, Menschen und Tiere und Bäume, blauen Himmel und grüne Wiesen“. Darüber entspann sich denn einlanges Hin – und Widerreden, das um so ergebnisloser war, und blieb, je geringer das Verständnis war, das die beiden Bauersleute von der Sache hatten. Nachdem man dem Grafen das Ergebnis der Reise zugleich mit der Abneigung des Knaben gegen diese Art Malerei mitgeteilt hatte, wurde die Sache stillschweigend ad acta gelegt  und der hangende und bangende Zustand dauerte fort.

Die Neigung des Knaben war ondes nicht mehr zu unterdrücken und | so liess der Vater, ins Unabänderliche sich fügend, den Dingen, wie sie sich angebahnt hatten seinen Lauf, in der sicheren Hoffnung, der hohe Herr werde seiner, durch die ungeforderte freiwillige Initiative übernommenen moralischen Verpflichtungen wohl oder über nachkommen. Indessen wuchs der Junge, immer zwischen zwei Betätigungen hin und herpendelnd, zum Jüngling heran. Bald fuhr er mit seinem kuhbespannten Wagen oder Pflug im Feld herum bald hantierte er mit der Hacke, der Sense oder der Sichel, grub, jätete, machte Kartoffeln aus, usw., bald stand er in einem hohen, bilderbehängten Raum des Schlosses rieb Farben, putzte Pinsel und ging dem Maler allenthalben zur Hand, oder sass an einem Seitentisch und übte sich im Zeichnen. Sonntags wanderte er ins Städtschen, um in der Gewerbeschule ein paar Stunden zu zeichnen, blieb dann gelegentlich einige Tage bei seinem Lehrer, um sich diesem im Atelier, mehr aber noch seiner Gattin in Küche und Haushalt nützlich zu machen, und fuhr dann wohl, wenn der Meister von einem Wagen des Grafen zu seiner Kopierarbeit abgeholt wurde, stolz auf dem Boch wieder nach Hause. Es war, wie man sieht, ein recht merkwürdiger Zustand, und man darf nicht annehmen, er habe sich so glatt abgespielt, wie er hier mit den paar Worten angedeutet ist. Trotz der Resignation des Vaters gab es doch in Zeiten, wo sich die Arbeit häufte und man nicht genug Hände haben konnte, manchmal recht unerquickliche Stunden und Tage, Zeiten, in denen es wie Gewitterschwüle über der Familie lag, in der ein verhaltenes Donnern grollte, und ein gelegentliches Einschlagen nicht ausgeschlossen war.  Schon ging der junge Mann ins 17. Jahr und Vater und Mutter hatten bereits mehrfach bei der Herrschaft in aller Demut angedeutet, dass die Dinge anfingen, ihnen schwere Sorgen und Kummer zu machen, und leise angefragt, was denn nun schliesslich aus der Sache werden solle, zu einem definitiven Bescheid waren sie aber nicht gekommen.

Da kam eines Tages der Bruder des Grafen, derselbe für den die Kopien der Ahnenbilder angefertigt wurden, zum Besuch im Schlosse an. Nachdem der einige Zeit dagewesen, und die Zeit herannahte, wo er | wieder abzureisen gedachte, wurde eines Tages der Vater ins Schloss gerufen und ihm eröffnet, sein Sohn solle sich bereit machen, mit dem Grafen nach Regensburg resp. dessen ein paar Stunden davon gelegenes Schloss zu gehen. Dort solle er bei diesem letzteren sich nützlich machen, sich durch Umgang mit der herrschaftlichen Umgebung einige Bildung aneignen und nebenbei einstweilen die Gewerbeschule in Regensburg besuchen, wobei dann zu konstatieren sei, ob das Talent desselben gross genug sei, um einer evtl. Weiterausbildung Erfolg zu versprechen. Da gab es denn eine rechte Aufregung im kleinen Bauernhause. Der Sohn jubelte. Endlich ein Schritt aus diesem haltlosen Zustand heraus, endlich eine Aussicht auf bessere entschiedenere Förderung seiner Wünsche und Ziele. Zwar klang die Melodie nicht allzurein, der Passus mit den Dienstleistungen war ein ziemlich vieldeutiger, dunkler Punkt, aber im Ganzen musste der Schritt doch zu Gunsten seines Kunststrebens getan sein, sonst wäre ja keine Veranlassung dazu gewesen.

So ging er denn diesem neuen, wenn auch nicht klar zu überblickenden Zustand mit vertrauensvoll frohen Erwartungen entgegen. Die Vorbereitungen zur Reise und langen Abwesenheit wurden schleunigst getroffen. Aus einigen abgelegten Kleidungsstücken des Grafen oder seiner Söhne wurden neue für den Knaben gemacht. Ein paar wirklich neue blanke Halbstiefel der Stolz des künftigen Besitzers, lieferte der Dorfschuster, für Wäsche, Strümpfe. Taschentücher usw. sorgten die Mutterhände, und über diesen Vorbereitungen kam zwischen frohem Hoffen  und nagendem Abschiedskummer der Tag des Scheidens heran.

Dieses Scheiden habe ich am Eingang mit wenigen Worten geschildert, und nun wollen wir uns anschicken, die beiden Wanderer zu begleiten.

Ihr erstes Ziel war ein, etliche Stunden entfernter Gutshof des Grafen. Dort stand ein Trupp Rindvieh bereit, in die Gegend von Regensburg nach neuangekauften Landgütern gebracht zu werden, und unsere beiden Wanderer waren dazu ausersehen, diese Überführung zu bewerk- | stelligen. Nachdem sie auf dem Hof übernachtet hatten – im Heu, wie ich nebenbei bemerken will, wurde anderen Tages früh morgens mit Hilfe des Verwalters und einer Anzahl Knechte das Vieh herausgeführt, zu einem Rudel vereinigt und der grosse Zug begann. Es waren im ganzen 13 Stück, Kühe, Rinder, Kälber und ein gewaltiger unwirscher Bulle mit einem Knebel an der Vorderbeinen. Zuerst gab es natürlich ein ziemliches Durcheinander. Der Haufen der von ihren Ketten befreiten aus dem friedlichen Bann der Ställe zur Freiheit entbundenen Tiere war anfangs nur schwer zusammenzuhalten. Einige Leute vom Hof mussten ihm noch eine ziemliche Strecke das Geleit geben, bis er sich aneinander und an das ruhige Marschieren gewöhnt hatte. Schliesslich als das einiger massen erfolgt war, zogen die Helfer einer nach dem anderen ab und überliessen die zwei samt dem ihnen anvertrauten Vieh ihrem Schicksal. Und so zogen sie denn, immer noch mit mehr oder weniger Unbotmässigkeiten der Vierfüssler kämpfend, ihre Strasse dahin: Viehtreiber, Metzger, Händler und dergl. wie sie damals noch auf den Strassen keine Seltenheit waren. Dem an der Spitze des Zuges einherschreitenden Menschen sah es Niemand an, und Niemand konnte von ihm vermuten, dass er im Wandern heimlich das Land der Kunst mit der Seele suchte. Dass es eine grosse, bedeutungsvolle, eine Schicksalsreise für ihn war, die er als Führer dieser gehörnten Schar angetreten hatte.

In Kirberg wurde zum ersten Mal übernachtet. Am anderen Tag kamen sie bis nach Wiesbaden und übernachteten zum zweitenmal. Am dritten Tage wurde das Vieh auf die Eisenbahn gebracht, und in ein paar Güterwagen eines sogenannten gemischten Zuges wie sie damals, halb Personen- halb Gepäckzug, noch gebräuchlich waren, zum Transport verladen. Die beiden Führer nahmen in einem Abteil dritter Klasse, eine 4. gab es noch nicht, Platz und langsam und gemütlich ging es dem schönen frommen, trinkfesten Bayernland entgegen. Auf jeder Haltestation und jeder berührte Ort war eine solche, wurde nach dem Vieh gesehen, etwaige Unordnung wieder geordnet und Sorge getragen, dass | nichts Schlimmes passieren konnte. In Bamberg, wo sie nach langer Fahrt endlich ankamen, wurde das Vieh ausgeladen, in einem Stall gebracht und bei normaler Fütterung eine Nacht und einen Tag ruhen lassen. Alsdann wurde die Verladung, ein recht umständlicher Prozess, wieder neu vorgenommen und per Bahn gefahren bis nach Nürnberg. Es war ein Samstag, als sie dort ankamen, und der darauffolgende Sonntag, war, diesmal aus religiösen Gründen, wieder ein Ruhetag. Als die Beiden die Tiere untergebracht, gefüttert und wohlversorgt hatten, machten sie gegen Abend – sie wohnten in einem Fuhrmannswirtshaus vor der Stadt, – noch einen kleinen Abendspaziergang in diese hinein. Da fanden sie die Tore bekränzt und die Häuser beflaggt, und waren unbescheiden genug, diese Ehre, die dem morgigen Einzug des Königs Ludwig  galt, für sich und ihre Rindviecher in Anspruch zu nehmen. Den Einzug des Königs sahen sie aber nicht. Müde und abstrapaziert, wie sie sich fühlten, legten sie sich nach dem Gottesdienst aufs Stroh und verschliefen den schönen Tag und das Einzige, was dem jungen Man von jener Anwesenheit in der alten ehr- und denkwürdigen Stadt mit dem Zollernschloss, der eisernen Jungfrau und dem Hause Dürers in lebensfrischer Erinnerung geblieben ist, sind einige Frauen – Damen in den Augen des Westerwälder Kindes – die im Kirchgangstaat das Gebetbuch mit dem Rosenkranz in den Händen, frühmorgens in das ländliche Wirtshaus traten, an einem der weissgescheuerten Tische Platz nahmen und jede einen schäumenden Krug Bier verzehrten. Das hatte er noch nicht gesehen und kam ihm über die Massen merkwürdig vor …

Den folgenden Montag-Morgen  setzte sich der Zug wieder in Bewegung per pedes auf der staubigen Landstraße aus dem fränkischen Land der hopfenreichen Oberpfalz entgegen. Aber ach, mit dem Marschieren des lieben Viehs wollte es gar nicht mehr recht gehen. Das Völkchen, anfangs so mutwillig und bei seinen Possen nur schwer in Ordnung zu halten, liess Kopf und Schwanz hängen und bewegte sich nur noch mechanisch vorwärts. Auf längeren, übersichtlichen Strassenstrecken, brauchte der junge Führer gar nicht mehr vorauszugehen, gesellte sich | hinten zu seinem alten Kollegen und liess sich von ihm zur Verkürzung der endlosen Stunden vom Schinderhannes und anderen berühmten Räuberhauptmännern, sowie Hexen, verwunschenen Schlössern, Spuk und Geisterwesen die haarsträubendsten aber buchstäblich geglaubten Geschichten erzählen. Die Tage waren heiss, die Landstraße trocken und voll Staub, die Tiere wurden immer matter und  kraftloser, die Tagemärsche immer kürzer, schliesslich kamen sie bei dem besten Willen an einem ganzen Tag nur eine halbe Stunde weiter. Da blieb ihnen nichts anderes übrig, als des Jungvieh auf Wagen zu laden, den jungen Mann zur Aufsicht dazu zusetzen, und mit bezahlter Hilfe den Alten das übrige Volk mit Ach und Krach nachtreiben zu lassen. Elf Tage brauchten sie so, bis sie an den Ort ihrer Bestimmung, einem entlegenen Hofgut ankamen. Da war denn ihre Landstrassen und Viehtreiberfreude Gottlob! vorbei. Aller Verantwortungssorgen enthoben gaben sie sich am Abend mit dem Hofbauern, einem Landsmann und seiner, vor Heimweh fast sterbenden Frau, die glücklich waren, wieder einmal Heimatlaute zu vernehmen, um den schwelenden Kienspahn sitzend, einem behaglichen Ruhegefühl hin.

Am anderen Morgen wanderten sie selbander durch das stille fremde Bauernland dem ziemlich weit entfernten Wohnsitz des Grafen zu, bei dem der Alte Bericht zu erstatten, und der Junge sein ferneres Schicksal zu erwarten hatte. …

Ich weiss nicht, ist es gut oder schlimm, dass wir nicht in die Zukunft sehen können. Wenn wir es könnten, wenn wir, ganz abgesehen vom Materiellen, eine Ahnung hätten, von den Fäden, die veränderte Lebensbedingungen, der Geist der neuen Umgebung, die Hand fremder Mächte um unsere Seele spinnen, – wer weiss, ob unsern jungen Freund nicht noch auf diesem letzten Stückchen Weges die Reue erfasst, wer weiss, ob er dieses Schlosses Schwelle übertreten hätte? Doch Schicksal ist Schicksal, er hat sie übertreten, und es wäre müssig, die Frage aufzuwerfen, wie es gekommen wäre, wenn er es nicht getan hätte.

Der Empfang war soweit ordentlich, etwas mehr Wärme hätten ihm | freilich nicht geschadet, wenigstens wäre es dem jüngeren der beiden Empfangenen nicht dabei so frostig zu Mute geworden, wie es tatsächlich der Fall war. Sehr müde, wie er nach dem langen Marsch war, legte er sich am Abend in das ihm in der  Kutscherstube angewiesene nicht sehr einladende Bett und schlief bald den gesunden Schlaf der Jugend. … Ohne Ahnung, wie lange er geschlafen, schlug er auf einmal die Augen auf, geweckt durch einen nicht eben sanft klingenden Anruf: in der Stubentüre stand der Graf und machte ihm mit dürren Worten darauf aufmerksam, dass Langschläferei hier nicht ortsüblich sei, dass er sofort aufzustehen, seines, des Grafen Stiefel zu putzen und Kleider zu reinigen, dann sich anständig anzuziehen und ihm das Frühstück zu servieren habe. Wie verhagelt fuhr der Angerufene in die Kleider und nicht lange währte es, da stand er mit einer Leinenschürze vor dem Leibe in einem Winkel und putzte Stiefel. Nachdem er dann, linkisch und unbeholfen genug, das Frühstück aufgetragen und allerlei Verhaltensmassregeln in Empfang genommen hatte, trug er wieder ab, brachte das Zimmer des Grafen nach gegebener Anweisung in Ordnung, machte dann sein eigenes Bett, reinigte die Kutscherstube, eine Arbeit, die ihm der Kutscher, ein etwas älterer durchaus ungebildeter Bauernsohn, freundlichst überwiess, servierte später das Mittagessen, uns so ging das in einer Tour bis zum Abend. Und als er dann wieder in seinem neuen-alten Bett lag, und sich den Schaden besah, da war er ein Bedienter geworden! …

Am nächsten Morgen versäumter er nicht zu rechter Zeit seinen Dienst anzutreten, und tat, wenn auch mit äusserst niedergedrücktem Herzen, was man von ihm verlangte.

Nach dem Frühstück des Grafen wurde sein älterer Begleiter entlassen, ergriff den Wanderstab, und als dem jungen Mann auf seine Bitte gewährt worden war, ihn noch eine Strecke zu begleiten, schritt er mit ihm trübselig und still die Strasse nach Regensburg hin. |

Der Alte hatte für seine Klagen wenig Verständnis, gab ihm in tröstender Weise zu verstehen, dass er doch im Grund genommen Gott danken könne, als ein solch junger Mensch einen so guten Posten bekommen zu haben, und dass  mancher arme Bauernbub sich die Finger danach lecken  würde. Schwer, ach wie schwer war der Abschied von dem Alten, von dem letzten vertrauten Gesicht, den letzten heimatlichen Lauten. Mit tausend Grüssen an die lieben Eltern und Geschwister beauftragt zog der Glückliche dann der alten schönen Heimat wieder entgegen und er schritt einsam und verlassen seiner neuen zu. Als ihn sein Weg durch einen kleinen zum Schloss gehörigen Wald führte, liess er sich auf einem am Rande liegenden Baumstamm nieder und weinte, weinte als ob er sich das Herz aus dem Leibe weinen wollte. ….

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Zwei Jahre waren nach diesem Tag  beinahe verflossen nur wöchentlich einmal unterbrochen durch einen zweistündigen Marsch nach Regensburg und einen gleichlangen Zeichenunterricht in der dortigen Gewerbeschule in demselben Stile wie auch zu Hause, nicht besser, eher schlechter. Die Jugend ist, gottlob, anpassungsfähig und gewöhnt sich wenn das kategorische Muss dahintersteht, an Alles. Der jugendliche Leichtsinn, der auch mir, im muss sagen, leider, in nicht geringem Grade zu Gebote stand und mich öfter sowohl mit meinem Gewissen als mit meinem Herzen in Konflickt brachte, hilft über Vieles, was einen älteren Mann niederschmettern würde, hinweg. Insofern muss man ihn einen glücklichen nennen. Wenn er aber wie hier sich mit einem weichen unselbständigen Charakter verbindet, einem Gemüt, das schwere Täuschung zu überwinden hat, wird er leicht dadurch, dass er diesen Charakter veranlasst, sich der Betäubung wahllos in die Arme zu werfen, zu einem unglücklichem. Als der junge Bediente gegen Ende der angegebenen Zeit gelegentlich, und das kam je länger je öfter vor, seiner Situation und seines Zustandes sich erinnerte, und, darüber nachdenkend, sich vergegenwärtigte, was er gewesen und was er jetzt war, musste er sich gestehen, dass er als Mensch nicht eben gewonnen und unter dem | sehr niedrig stehenden Bedientenvolk mit dem er verkehren musste, an Herzens, Gemüt- und allgemeiner Bildung eher Rück- als Fortschritte gemacht hatte. Mit trauerndem, reumütigem Herzen wurde er sich bewusst, dass er in den zwei Jahren nicht besser geworden war, – eher das Gegenteil. Das drückte ihn heimlich sehr und mit Sehnsucht hoffte er auf eine Wendung seines Schicksals, auf eine Erlösung aus diesem, das sah er deutlich ein, für ihn verderblichen Berufe. Und diese Wendung kam.

Eines Tages hiess es, der Herr Bruder aus Nassau, sein einstiger Lehrer und Gönner, habe sich wieder verheiratet und käme demnächst mit seiner jungen Frau zu Besuch im Schloss an. Da schlug ihm das Herz. Die Tage bis zur Ankunft des Mannes, der ihm so viel freundliches erwiesen hatte, ging er wie in einem Traumzustand herum. Wenn der kam, musste etwas geschehen zu seinen Gunsten, der konnte nicht wieder fortgehen und den armen Teufel hier in seinem Elend stecken lassen. Als der Wagen vorfuhr,  stand er in seinem Livreerock an dem bekränzten Portal, blass wie die Wand, zitternd öffnete er den Schlag der Kutsche, und die Tränen liefen ihm dabei die Wangen herunter, dass eine die andere schlug. Nachdem die herzliche Begrüssung zwischen dem Herrschaften vorüber, und die beiden Gäste – auch die junge Gräfin kannte den Diener sehr wohl, sich auch nach diesem, der mit tränenblinden Augen beiseitegetreten war, umsahen, und ihn mit freundlichen, herablassenden Worten begrüssten, da steigerte sich sein Schluchzen derart, dass er sich abwenden musste, um nicht laut aufschreien zu müssen. Mit begütigenden tröstenden Worten – es waren ja doch gute Menschen -, schritten die Herrschaften etwas betreten ins Haus und die Stiegen hinan, – es mochte, ja musste ihnen doch wohl eine Ahnung aufgegangen sein, was diese Tränen fliessen machte, und die stumme Anklage, die darin lag, mussten sie fühlen.

Aber die Pflicht rief, die Tränen mussten getrocknet werden. Wie gerne war er bereit, die Ankömmlinge zu bedienen, wie tat er Alles ihren Wünschen entgegenzukommen! Und das nicht etwa in der Absicht, | sie günstig für sie zu stimmen, sondern weil er ihnen wirklich dankbar war, dafür, dass sie ihn gut und freunlich behandelten, dass sie ihm von der Heimat, den Eltern und Geschwistern erzählten, und ihm durch den Inhalt der Mitgeteilten bewiesen, dass sie wirklich Teilnahme für ihn hatten. Die Wochen, während deren das gräfliche Paar dablieb, kam ihm wie eine Oase in der Wüste vor, und mit Grauen dachte er daran, dass sie wieder fortgehen könnten, ohne ihm heurauszuhelfen aus seinem Jammer. Aber seine Hoffnung sollte ihn nicht täuschen.

Als er an einem der letzten Tage vor der Abreise des gräflichen Paares zu dem Grafen gerufen wurde und aus der Eröffnungen, die er ihm zu machen begann, nur das Wort: „München“ heraushörte, da war es als ob ihm die Fesseln von den Händen und Füssen fielen, und ein unsagbares Glücksgefühl stieg in ihm auf, ein Gefühl, das keine Worte fand und sich nur in Tränen äussern konnte. Auch diese Tränen hatte der Herr wohl verstanden, er war sehr gütig zu ihm; wie er für seine Person ja immer gewesen war und über alle Wirrnisse und Enttäuschungen der Zukunft hinaus blieb er diesem Manne dankbar, der ihn als Menschen behandelte, ja schier wie einen Freund – ach wie anders hätte es sein können, und später werden müssen, wenn er es ausschliesslich mit ihm zu tun gehabt hätte….

Nun hatten sich endlich die grauen Wolken zerteilt, die Sonne begann wieder zu scheinen, die Sonne einer schönen Hoffnung. Alles drum und dran, mit dem der Graf das Wort „München“ verbunden hatte, kam nicht in Betracht wenn es ihm nur ermöglicht wurde, dort zu seinem Ziele entgegenzustreben.

An einem bitterkalten Wintertage sass der junge Mann, die Füsse in Stroh gebettet, und so gut eingehüllt, als es ihm möglich war, im Postschlitten und fuhr von Regensburg ab gen München. Früh 5 Uhr hatte die Fahrt begonnen und spät am Abend kam er in München an – eine Eisenbahn gab es damals auf dieser Strecke noch nicht -. Dieser zweite Abschnitt der Reise ins Land der Kunst war fürchterlich gewesen und wenn es Vorbedeutungen gibt, so lag in den Erlebnissen dieses | Tages, dieser kalten Fahrt, eine sehr schlechte. (Ein näheres Eingehen darauf hat mit dem Zweck  dieser Zeilen nichts zu tun). Aber es war nun ein Tag und nun war ich in München!! Ach ihr lieben Freunde, wenn Ihr wüsstet, welch ein Zauber für den weltfremden erfahrungslosen Bauernbuben vom fernen Westerwaldwinkel, dem reinen Toren, der mit halberfrorenen Gliedern und entsetzlich elend da ausstieg und in der grossen Stadt sein Quartier da aufsuchte, in dem Wort „München“ lag und wüsstet, was er dann dort erleben sollte, Ihr würdet die Tragik einen Menschenschicksals vor Euch sehen, und ihm Euer wehmütiges Mitgefühl nicht versagen können. Aber Ihr wisst das Letztere noch nicht und ich will es Euch im Folgenden, wenn auch nur ganz andeutungsweise, erzählen.

Ihr denkt natürlich nun sei er ein freier Mann, ein froher, frischer Schüler der Kunst. Nicht doch, nicht so ganz wenigstens: seine Stiefel und Kleider putzte er auch hier. Er war dem Sohn seines Regensburger Herren dem jungen Grafen, der die Universität bezog, als Diener mitgegeben worden. Dieser war nun ganz und gar kein strenger schlimmer Herr: im Gegenteil ein liebenswürdiger sympathischer Mensch voller Gutmütigkeit und Bescheidenheit, schlecht hatte er es bei dem nicht. Der liess sich angelegen sein, ihn in seinen Zwecken zu fördern, ging mit ihm zu den Professoren der Akademie und als diese die Vorbildung des jungen Mannes nicht genügend fanden, ihn in die Antikensäle der Akademie aufzunehmen, führte er ihn in Maler und Bildhauerateliers ein und verkehrte eher als Freund denn als Herr mit ihm, sodass, als er dann seine freien Stunden dem Studium widmen konnte, ihm kaum etwas zu wünschen übrig blieb. Denn wenn er auch den übrigen freien Kunstjüngern gegenüber sein Bediententum innerlich etwas bedrückend fühlte, so litt er doch keine Not wie mancher von jenen und kam ihm doch sein jetziger Zustand gegenüber dem vorhergegangenen wie eine wahre Erlösung vor. Nach ein paar Monaten, während deren er sich die nöthigen Vorkenntnisse für den Eintritt in die Akademie aneignen musste, wurde er in diese aufgenommen und begann | zunächst im Antikensaal den gewöhnlichen Studiengang, wie er damals in den Akademien üblich war, in gewohnter Weise durchzumachen. Sein Tagesablauf begann, da es Winter war, mit Feueranzünden. Dann wurden Schuhe und Kleider geputzt, das Frühstück serviert, darauf Betten gemacht und Zimmer gereinigt, und von etwa 9 – 12 Uhr stand er dann an der Staffelei vor irgend einem Gipskopf oder einer antiken Figur und zeichnete. Um ein Uhr trat er dann wieder mit der Serviette an, erledigte den Mittagsdienst usw. um die Nachmittagsstunden wieder in der Akademie zuzubringen und am Abend mit Servieren, gelegentlichen Gängen und sonstigen Dienstleistungen den Beschluss zu machen. Das war nun, alle Verhältnisse in  Betracht gezogen, wirklich eine ganz hübsche Zeit für ihn, ach, leider war sie nur sehr kurz! (es dauerte nur ein halbes Jahr). Der junge Herr bezog eine andere Universität und sein akademischer Diener wurde frei – ganz frei! …

Mit vielen guten Ermahnungen und wohlwollenden Worten nahm der Graf Abschied von ihm liess ihm – sein Wechsel mochte ihm wohl nicht mehr erlauben – 5 Gulden als Zehrgeld für die nächsten Tage zurück – für das Weitere würde sein Vater von Regensburg aus sorgen und reiste ab. Nun war also unser guter Bauernjüngling, wie gesagt, ganz frei so frei wie ein im Käfig erzogener Vogel, wenn er zufällig aus ihm herauskommt nur sein kann. Wird er aus dem Käfig einfach hinausgeworfen ohne in weitere Verbindung und Abhängigkeit mit ihm zu bleiben, dann geht er entweder sehr rasch zu Grunde oder lernt sich auf sich selbst und seine Kräfte besinnen wird sie gebrauchen, anfangs unsicher und unbeholfen, später immer selbständiger und energischer, und endlich wird er, von allen Folgen der Gefangenschaft befreit, sich durch die Welt schlagen fast so gut als ein freigeborener. Wird er aber in einer gewissen Abhängigkeit vom Käfig gehalten, von dem aus er, wenn auch notdürftig genug, mit Futter versorgt wird, dann kann nichts Rechtes aus ihm werden; als eine Halbheit wird er sein Leben fristen, ein frischer, fröhlicher selbständiger Sänger, wie ihn der Wald geboren, wird er nie werden. Und so ist de denn auch unserem Vogel vom| Westerwald ergangen.

Mit seinen 5 Gulden wirtschaftete er zunächst sehr sparsam. Hoffend auf den ihm in Aussicht gestellten Zuschuss gönnte er sich nur das Allernötigste; wurde aber doch eher damit fertig, als das Erwartete ankam. Endlich erhielt er 14 Gulden zugeschickt, die im Verein mit den 5 verbrauchten seine künftige Monatsgage ausmachen sollten. Dach war ein kleiner Additionsfehler unterlaufen, es sollten nicht 19 sonder 20 Gulden sein. Von Herzen dankbar, nachm er diese Gabe der Grossmut entgegen, verwendete sie äusserst sparsam und bemühte sich, durch Fleiss und anständiges Leben sich derselben würdig zu machen. Als er das erste Jahr in den Herbstferien nach Hause durfte, brachte er nicht nur ein gutes Zeugnis, sondern auch noch einen kleinen Überschuss an Geld mit, was bei 20 Gulden monatlich gewiss nicht auf Verschwendung deutet. So wäre also alles seinen guten Weg gegangen, wenn nicht dem monatlichen Geldbrief von Regensburg stets ein kurzes Schreiben ohne Anrede beigelegen hätte, das fast nie unterliess, den Empfänger darauf aufmerksam zu machen, dass das Geld ein Darlehen sei auf dessen Wiedergabe bestimmt gerechnet würde. – Die Quittung musste auf jede Sendung in aller Form umgehend mit dem genauen Ausgabenverzeichnis eingeschickt werden – ein Darlehen, das ihm unverdienterweise aus Gnade gewährt wurde und daran anschliessend, welche Summe von Dankbarkeit er neben dem Gelde dafür schuldig würde und was er an Fleiss, Sparsamkeit und Bescheidenheit Untertänigkeit und vor allem Frömmigkeit zu leisten habe, um sich dieser hohen Gnade würdig zu erweisen. Ach, das war ja alles ganz richtig und selbstverständlich, und der, dem das immer wieder und immer wieder wiederholt wurde, wusste das von vorneherein und zwar festen Willens, es zu seiner Richtschnur zu machen. Aber die ewige Widerholung desselben in den kurzen Schreiben ohne Anrede, die mit halbem Widerwillen dem Stolz abgerungen zu sein schienen, sich überhaupt mit dem armen Teufel da befassen zu müssen, der ewige Hinweis auf die Gnade und Herablassung, das unverholene Misstrauen, das häufig darin durchtönte | und die scharfe Rüge bei kleinen Verstössen oder Unregelmässigkeiten fielen dem jungen Künstjünger doch immer mehr auf die Nerven und machten seinem Dankgefühl ja seiner Lebensfreude die Existenz schwer. Aber die Sache würde trotz alledem noch in erträglichem Geleise geblieben sein, wären die Geldsendungen nur immer regelmässig und pünktlich eingetroffen. Das war aber nicht immer der Fall. Da aber der Mensch sich sehr schwer ans Hungern gewöhnt, so blieb dem Ärmsten nichts anderes übrig, als zu borgen und er kam dadurch mit seiner kleinen Finanzwirtschaft in Unordnung, was denn die Briefe immer schärfer und missachtender machte, so zwar, dass der Empfänger, wenn er einen solchen zu erwarten hatte, schon Tage vorher in nervöser Aufregung umherging sie, wenn sie ankamen mit Herzklopfen in Empfang nahm und mit zitternden Händen öffnete. Ich will durchaus nicht behaupten, dass er selber so ganz ohne Schuld bei der Sache war, gewiss nicht, sein oben angedeuteter Leichtsinn spielte auch eine Rolle dabei, aber wenn man bedenkt wie klein der diesem Leichtsinn zu Gebote stehende Spielraum innerhalb der Summe von 20 Gulden im Monat war, wird man die diesem Leichtsinn zuzuschreibenden Schwankungen in der Balance derselben kaum einer so scharfen Verurteilung entsprechen halten.

Doch genug davon. Lasst mich, ehe ich zum Schluss dieser etwas wunderlichen Reise komme, und das schliesslich erreichte Ziel derselben Euch vor Augen führe, einen kurzen Gesamtüberblick über die Lebensreise meines Wanderers werfen.

Das Kind armer braver Eltern, die sehr fromm und in ihrer Frömmigkeit sehr streng waren, namentlich der Vater, wurden ihm von Kindheit an die Zügel recht kurz gehalten. Das persönliche Moment in ihm wurde getreu den Tendenzen der Kirche möglichst niedergehalten. Demut, Bescheidenheit, Untertänigkeit gegen alles Oben und Frömmigkeit waren Hauptwerte der Erziehung. Nun kam der Konflikt des Bauernberufs mit seinem künstlerischen Neigungen, der ihn, wie an einem Seidenfaden hängend, jahrelang unsicher hin und herpendelnd in der| Schwebe hielt. Das Hoffen und Harren auf unbestimmte Gnaden von oben die bitter Entäuschung, die ihm diese brachten, als er statt des Pinsels die Schuhbürste in die Hand nehmen musste, wieder jahrelanges Sehnen und Hoffen zwischen leichtfertigem ungebildetem Bedientenvolk und zuletzt die fortdauernde innere Beängstigung, der ewige Stachel armseliger Abhängigkeit, die Bitternis, die er schliesslich mit jedem Bissen, der doch ein Bettlerbissen war, mit hinunterass, (bis er es schliesslich nicht mehr aushielt und innen und aussen zerfallen von München fortging und sich auf die armseligste Weise selbst durchbrachte) – wie konnte das Alles einen freien hohen Blick über das Leben, über das Wesen seiner Kunst aufkommen lassen? … Noch habe ich nicht erwähnt die Brief der jungen Gräfin, denn auch sie schrieb ihm von Zeit zu Zeit und sie meinte es wirklich gut mit ihm. Aber auch sie stand auf dem hohen Piedestal des Gottes- und Menschengnadentums, ihr Standpunkt war der gleich engherzige des Regensburgers, der davon auszugehen schien, einen nichtsbedeutenden Ich-losen Klosterbruder statt einem wehrfähigem kraft- und saftvollen Manne zu erziehen, der befähigt ist, in seinem Beruf hohe Ziele zu erkämpfen. Dankbarkeit, Demut, Bescheidenheit, Sparsamkeit, kurz alle christlichen Tugenden waren der Inhalt auch ihrer Briefe und vor allem Frömmigkeit, Frömmigkeit und wieder Frömmigkeit! Dennoch waren sie wohltuend nicht verletzend, denn die reine Güte, und wirkliche Teilnahme klangen aus ihnen heraus, auch hatten sie eine Überschrift, sie lautete: Gelobt sei Jesus Christus! …

Das war nun das A und O jahrelang, jahrelang die geistige Nahrung eines jungen Künstlers! Wo sollte bei dieser Nahrung herkommen, was er wirklich notwendig hatte, Selbstvertrauen, Kraft, Energie, Männlichkeit, Persönlichkeit? Wo der freie Flug des Geistes, der Lebensmut, die Strebensfreude?? … Mit der Bildung eines Bauernbuben, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sah, und was noch schlimmer ist, mit der eines Bedienten, stand er mit systematisch niedergehaltenem, geknechtetem Charakter, wie mit verbundenen Augen vor der erhabenen, tiefgründigen | Sphäre der Kunst, in deren Gebiet er doch Erfolge erringe, Ziele erstreben, sich einen Namen und eine Existenz erwerben sollte!! Ach unter diesen Verhältnissen war das einfach unmöglich! Das allein naturgemäss Mögliche ist denn auch aus ihm geworden: ein den Verhältnissen mühselig abgerungene Halbheit, und wenn es ihm in späteren Jahren noch gelang, einige Erfolge und eine gewisse Achtung zu erringen, so ist da nicht eben viel dahinter, und unter welchen Kämpfen und Mühen er zu diesem Wenigen gekommen, uns wie schwer dem nunmehr siebzigjährigen das Schicksal eines verpfuschten Daseins auf der wissenden und fühlenden Seele liegt, das wollen wir mit Stilschweigen übergehen. . —

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Nun ist es also niedergeschrieben, was ich seit einem Menschenalter mit mir herumgetragen, was sich von Jahr zu Jahr mehr und schärfer in mein Bewusstsein eingefressen hat, niedergeschrieben nicht für die Öffentlichkeit – was hat sie mit den inneren Kämpfen eines armen Teufels von Maler zu tun! – sondern nur für die lieben Meinigen und einige Wenige, die ich zu meinen Freunden rechne. Vor allem ist es niedergeschrieben für meinen lieben Sohn, um ihm zu zeichen, wie unvergleichlich viel besser er es gehabt hat und noch hat, seinem Vater gegenüber, und um ihm ohne weitere Worte klar zu machen, warum ich ihn so erzogen habe, wie ich ihn erzog: frei und ohne andere Bande als die des Ehr-, Recht- und Pflichtgefühls, der natürlichen Liebe zu seinen Eltern des Abscheus vor allem Gemeinen, Niedrigen und der Höchschätzung von allem Grossen, Guten und Schönen.

Kaspar Kögler

 

Abschrift eines maschinenschriftlichen Manuskripts aus dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Nachlass Kaspar Kögler, Abt: 1138 Nr.11.
 
Anmerkung:
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